Die Kontraktionsmechanismen eines Muskels auf kleinster Ebene zu verstehen, zu sehen, was mit den Muskelfasern passiert, wenn der Muskel sich zusammenzieht oder dehnt und wie er seine Energie speichern kann, das interessiert Tobias Siebert brennend. Der Professor für Bewegungs- und Trainingswissenschaft an der Universität Stuttgart möchte herausfinden, wie Bewegung entsteht und wie Proteine wie Myofilamente, Myosin, Aktin und Titin, das sind die kleinsten Bausteinchen der Muskeln, dabei interagieren. Dazu untersucht er - zusammen mit Prof. Oliver Röhrle vom Institut für Modellierung und Simulation biomechanischer Systeme - den humanen Tibialis anterior, den vorderen Schienbeinmuskel. „Wir nehmen bei diesen Experimenten Muskeln, die eine lange Endsehne haben und die oberflächlich liegen, weshalb man sie gut untersuchen kann,“ erklärt er. Der Tibialis anterior hat zudem noch einen anderen Vorteil: Bei der Bewegung des Sprunggelenks, wenn der Fuß hochgezogen wird, ist er der einzige Muskel, der aktiviert wird. So können Messungen bei einer Bewegung auch eindeutig diesem Muskel zugeordnet werden.
Muskelfasern sind zelluläre Gebilde, etwa so dünn wie ein Haar. Sie sind in Skelettmuskeln enthalten, die wichtig sind für die Fortbewegung. Sie bestehen unter anderem aus Myofilamenten, das sind fadenförmige Proteine, und enthalten im Wesentlichen Myosin (ein Motorprotein) und Aktin (ein Strukturprotein). Titin, das größte Protein im menschlichen Körper, ist ein weiteres Myofilament, welches für die Muskelstruktur, das Mechanosensing (Reaktion auf mechanische Reize) und die Krafterzeugung wichtig ist. Sind die Muskelfasern nicht in der Kraftwirkungsline zwischen Muskelansatz und Ursprung ausgerichtet, sondern schräg, in einem bestimmten Winkel, spricht man von gefiederten Muskeln. Der Pennations- oder Fiederungswinkel ist dann der Winkel, mit dem die Muskelfasern bezüglich dieser Kraftwirkungslinie orientiert sind. Bei Bewegung wird der Winkel größer oder kleiner. Je größer der Fiederungswinkel ist, desto geringer ist die Kraft, die auf die Sehne und damit auf das Skelett übertragen wird.
Neuartiger 3-D-Ultraschallscanner
Um das Innenleben des Muskels zu untersuchen, verwenden die Wissenschaftler*innen im Team von Tobias Siebert einen neuartigen 3-D Ultraschallscanner, den die Doktorandin Annika Sahrmann entwickelt hat. Damit können sie zum Beispiel die Faszikel, das sind die Muskelfaserbündel, sichtbar machen und zwar nicht nur in Ruhestellung, sondern auch wenn der Muskel sich bewegt. Ziel ist es, möglichst viele Eigenschaften des Muskels zu vermessen, um anhand dieser Daten die Muskelarchitektur zu bestimmen. In einem ersten Schritt haben sie dafür die Muskeleigenschaften aus 2-D-Ultraschallbildern extrahiert. Dabei konnten sie generelle Informationen über Skelettmuskeln gewinnen, zum Beispiel wie Kraft und Länge oder Kontraktionsgeschwindigkeit und Kraft des Muskels zusammenhängen, über die Dicke der Muskeln, die Länge der Muskelfasern oder die Fiederungswinkel, mit denen Aussagen über die Kraftgenerierung und Architekturänderung getroffen werden können.
Was passiert im Inneren des Muskels, wenn man ihn anspannt? Die hellen Flecken sind das Kollagen- oder Fasziengewebe, von dem man auf die Bewegung der Muskelfasern schließen kann. Die Muskelfasern werden vom Kollagengewebe umhüllt, sind aber aufgrund ihres geringen Durchmessers – sie sind ungefähr so dünn wie ein Haar - nicht sichtbar. Die zentral gelegene dickere weiße Linie ist die Aponeurose, eine flächige Bindegewebsstruktur, die dem Sehnenende entspringt. Den Winkel der Fasern zur Sehne bzw. Aponeurose bezeichnet man als Fiederungswinkel.
Im zweiten Schritt werden die Eigenschaften der Muskelfasern anhand von 3-D-Ultraschallbildern bestimmt. Dazu verwenden die Wissenschaftler*innen das speziell dafür entwickelte Ultraschallscansystem. Um die 3-D-Bilder zu erzeugen, wird der Ultraschallkopf transversal, also senkrecht zur Beinachse aufgelegt. So entstehen sehr viele Bilder vom Querschnitt des Muskels. Anhand eines speziellen Algorithmus werden diese Bilder dann scheibchenweise zusammengefügt, so dass ein dreidimensionales Bild des Muskels entsteht.
„Die 3-D-Ultraschallbilder werden aus den 2-D-Bildern generiert. Man nimmt sich die verschiedenen Querschnitte und kennt die Position der jeweiligen Querschnittsaufnahme im Bezug zu einem globalen Koordinatensystem. Daraus kann man dann eine 3-D-Aufnahme erstellen, auf der man die Faszienbewegung während dynamischer Bewegungen beobachten kann“, erklärt Lukas Vosse, der diese Studie im Rahmen seines Promotionsprojekts durchführt. Ziel ist es, aus diesen 3-D-Ultraschallbildern die Muskelarchitektur während dynamischer Bewegungen zu bestimmen.
Viele Vorgänge bei Bewegung noch nicht erforscht
Diese Mechanismen bei der Kontraktion des Muskels auf der kleinsten Ebene zu verstehen, ist wichtig, um anschließend einen Muskel modellieren zu können. „Das Ziel unseres SimTech Projektes (PN 8-2) ist es, ein Finite Elemente-Modell eines Muskels zu erstellen“, sagt Tobias Siebert. Mit diesem Modell wollen die Wissenschaftler*innen dann das digitale Menschmodell vervollständigen. „Es gibt schon viele Menschmodelle, sie sind aber meist nicht detailliert genug, um alle Mechanismen abzubilden.“
Die Finite-Elemente-Methode ist ein Hilfsmittel, bei der zum Beispiel ein Muskel in eine endliche Anzahl kleinster Bauteilchen unterteilt wird. Aus dem Verhalten dieser einzelnen Teilchen oder Elemente kann dann auf das Gesamtverhalten des Muskels geschlossen werden. Mit Hilfe dieser Methode können anschließend unter anderem Simulationen durchgeführt werden.
Neben der Muskelgeometrie sind auch Querkräfte ein wichtiger Aspekt. Wenn der Muskel fest wird, erzeugt er nicht nur Kräfte in Zugrichtung, sondern auch seitlich. Diese Querkraft wird vom Körper genutzt, um beispielsweise etwas wegzudrücken oder zu stabilisieren. „Diese Querkräfte sind total wichtig, sie werden aber in 99 Prozent aller Modelle vernachlässigt“, ergänzt Siebert.
Viele Vorgänge bei Bewegung seien noch nicht erforscht. „Wir wissen zum Beispiel nicht genau, wie die Kraft bei Exzentrik entsteht, das ist wichtig beim Rennen, Springen und Abbremsen von Bewegungen. Da werden Muskeln gedehnt und es wird Energie gespeichert wie in einer Feder. Deswegen sind wir so effektiv und könnten, wenn es um unser Leben gehen würde, 24 Stunden am Stück laufen, also circa 100 km. Im Gelände schafft das momentan kein Roboter. Das hängt mit der Energiespeicherung zusammen, wie man in der Exzentrik Energie bei einem Stoß gewinnt und diese dann für den nächsten Schritt wiederverwenden kann“, erklärt Siebert weiter. In der exzentrischen Phase wird die aktivierte Muskulatur gedehnt und kann sehr hohe Kräfte erzeugen.
Personalisierte Modelle zur medizinischen Diagnostik
Deshalb interessiert es die SimTech Wissenschaftler*innen nicht nur, wie die Muskeln auf kleiner Ebene funktionieren, sondern auch, wie sie auf großer Ebene zusammenarbeiten, um eine stabile und robuste Bewegung auszuführen. Ein weiteres Ziel ist es, diese Modelle dann zu personalisieren, da jedes menschliche System individuell und somit anders funktioniert. Dafür wollen sie eine weitere Studie durchführen, mit Probanden, die möglichst unterschiedliche Eigenschaften hinsichtlich Alter, Geschlecht, Gewicht oder Kondition mitbringen.
„Momentan sind die meisten Modelle, die für Simulationen verwendet werden, Norm- oder Mittelwert-Modelle“, so Siebert. „Sie bilden meistens einen männlichen Jugendlichen im Alter von 25 Jahren ab, der circa 1,75 bis 1,80 Meter groß ist. Aber eben nicht die ältere Frau oder ein beleibter Mensch.“ Will man nun beispielsweise das Verletzungsrisiko anhand der Muskelmodelle berechnen, kann man es nicht so einfach auf jemand anderes übertragen. „Man muss zuerst die grundlegenden Mechanismen kennen, die bei jedem gleich sind und dann muss man herausfinden, welche Parameter in dem Modell verändert werden müssen, um es zu personalisieren.“
Tobias Siebert interessiert vor allem das neuromuskuläre System, also das Zusammenspiel von Muskelansteuerung und Krafterzeugung. Mit der Datenerfassung in 3-D sind die Wissenschaftler*innen im SimTech-Projekt PN 2-8 die ersten, die eine dreidimensionale Muskelarchitektur während aktiver dynamischer Kontraktionen bestimmt haben. Individualisierte Modelle könnten beispielsweise zur medizinischen Diagnostik bei neuromuskulären Erkrankungen wie Parkinson eingesetzt werden.
Sie könnten für die Anpassung von Prothesen hilfreich sein oder es könnten Vorhersagen getroffen werden, wie ein Körper bei einem Unfall reagiert und dementsprechend Empfehlungen ausgesprochen werden, um das Verletzungsrisiko zu minimieren. Im Bereich des Leistungssports könnten Trainingspläne noch effektiver auf die Sportler*innen zugeschnitten werden, und es wäre auch möglich, den Einfluss von Chemikalien oder Medikamenten auf die Muskelfasern vorherzusagen.
Mit maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz die Daten verarbeiten
Von der Vermessung des Tibialis anterior möchte Tobias Siebert dann auch auf die anderen Muskeln in unserem Körper schließen: den Herzmuskel oder die glatte Muskulatur, die in unseren Hohlorganen vorkommt wie in der Harnblase, im Magen oder Darm. Die Vorgehensweise ist immer die gleiche. Erst werden die Eigenschaften des jeweiligen Muskels bestimmt, und diese fließen dann in ein Modell ein, bis das Menschmodell vervollständigt ist. Bleibt nur noch das Problem mit der Datenfülle: Die 3-D-Modelle des Muskels sind extrem rechenintensiv. Für alle Muskeln eines Körpers könnte man diese Datenmenge noch gar nicht verarbeiten. Die Vision ist, dies mit Methoden des maschinellen Lernens und Künstlicher Intelligenz zu lösen. Daran werden die Wissenschaftler*innen weiterforschen.
Manuela Mild | SimTech Science Communication
Das System zur automatisierten und kontrollierten Aufnahme von 3-D-Ultraschallbildern mit einem integrierten Kraftkontrollmechanismus zur Gewährleistung einer gleichmäßigen Gewebedeformation haben Oliver Röhrle und Annika Sahrmann unter Anderem im Rahmen des SimTech-Projekts PN 2-8 entwickelt und validiert. Das 3-D-Ultraschallscansystem wurde patentiert.
Zum Nachlesen
Sahrmann, A. S., Vosse, L., Siebert, T., Handsfield, G. G., & Röhrle, O. (2024). 3D ultrasound-based determination of skeletal muscle fascicle orientations. Biomech Model Mechanobiol. DOI: https://doi.org/10.1007/s10237-024-01837-3
Über die Wissenschaftler
Tobias Siebert beschäftigt sich schon seit über 20 Jahren mit Muskeln. Zunächst hat er an der Universität Jena Sport und Biologie auf Lehramt studiert und bekam von seinem Mentor Professor Reinhard Blickhan ein Angebot für eine Promotionsstelle im Bereich Muskelphysiologie. Nach der Promotion schloss er sein Referendariat und das zweite Staatsexamen ab, bevor er sich als Postdoc mit mikrostrukturellen Muskelmodellen beschäftigte. Er habilitierte und bekam einen Ruf nach Stuttgart, wo er seit 2013 den Lehrstuhl für Bewegungs- und Trainingswissenschaften innehat. In seiner Forschung hat er schon mit Spinnen, Schaben, Fröschen, Ratten und Katzen gearbeitet, und ihn fasziniert, wie perfekt sich das Bewegungssystem über hunderte von Millionen Jahren entwickelt hat, über alle Lebewesen hinweg. In SimTech ist er in mehreren Projekten involviert und entwickelt z.B. mikrostrukturelle Muskelfasermodelle, die zum Verständnis der Kraftentwicklung beitragen sollen.
Lukas Vosse hat an der Universität Stuttgart Kybernetik, Biomechanik und Bewegungswissenschaften studiert und als Werkstudent an verschiedenen Instituten der Universität sowie beim Fraunhofer IPA in Stuttgart gearbeitet. Dort hat er Grundlagenforschung zur menschlichen Physiologie betrieben, CAD-Modelle von Hart- und Weichgeweben erstellt, an der Segmentierung des Muskel-Sehnen-Komplexes gearbeitet und Ultraschallexperimente durchgeführt. Nun promoviert er im SimTech-Projekt „Modelling of architectural-informed and activation-driven contractions of the human M. tibialis anterior“ und untersucht die Eigenschaften des vorderen Schienbeinmuskels, um ein 3-D-Modell davon zu erstellen. Nebenberuflich ist er Taekwondo Kampfsporttrainer.