Zelluläre Systeme simulieren

Komplexe biologische Vorgänge in Zellen oder Organen in einem Modell abzubilden, ist kein einfaches Unterfangen. Um beispielsweise zu verstehen, warum manche Zellen sterben und manche nicht oder welche Gene in welchen Zellen wie aktiv sind, braucht man Daten über die molekularen Prozesse. Hierbei liefern unterschiedliche Messverfahren Daten in sehr verschiedenen Formaten und mit unterschiedlichem Informationsgehalt.

Mathematische Modelle sind in der Lage, unterschiedliche Daten zu integrieren und damit neue, oft quantitative, Vorhersagen über das Systemverhalten zu treffen, die über eine reine Datenanalyse hinausgehen. Eine Schwierigkeit, die insbesondere in biologischen Systemen auftritt, ist die immense biologische Variabilität, die sich in vielen Datensätzen widerspiegelt. Beispielsweise ist das Antwortverhalten einer Population genetisch identischer Zellen auf Stimulation sehr heterogen, und diese Heterogenität ist auch auf größeren Skalen wie Geweben, Organen oder Organismen omnipräsent. 

Ein Markovprozess ist ein spezieller stochastischer Prozess, der sich dadurch auszeichnet, dass er gedächtnislos ist. Das zukünftige Verhalten ist damit nur abhängig vom aktuellen Zustand des Prozesses und unabhängig von der Vergangenheit.

Die Integration von Datensätzen, die eine große Variabilität aufweisen, stellt eine Herausforderung an die Modellierung dar und erfordert oft an das spezifische Problem angepasste stochastische Modellierungsansätze oder statistische Methoden zur Modellkalibrierung. Nicole Radde, Professorin für Mathematische Modellierung und Simulation zellulärer Systeme an der Universität Stuttgart, und ihr Team entwickeln in ihrer Grundlagenforschung solche Modellierungsansätze und Methoden. „Es gibt beispielsweise einen Standardmodellierungsansatz, um das stochastische Verhalten biochemischer Reaktionsnetzwerke bei kleinen Molekülzahlen abzubilden, die Chemische Mastergleichung, die jedoch nur für sehr kleine Systeme funktioniert“, erklärt Nicole Radde. 

Momente beschreiben die Verteilung einer Zufallsvariablen. Die bekanntesten Momente sind der Erwartungswert, also der durchschnittliche Wert einer Zufallsgröße, oder die Varianz, das heißt wie viel sie vom Erwartungswert abweicht.

Die Chemische Mastergleichung ist ein System von linearen Differentialgleichungen und beruht auf der Theorie von Markovprozessen. Sie liefert eine zeitabhängige Wahrscheinlichkeitsverteilung über die Menge aller möglichen Konfigurationen des Systems. Für größere Systeme ist dieser Ansatz jedoch nicht praktikabel, weil die Menge der Konfigurationen in der Regel sehr groß oder sogar unendlich groß sein kann und damit auch sehr rechenintensiv ist. Eine direkte Lösung der Chemischen Mastergleichung ist oft nicht möglich. 

Kontrollsystem für geschätzte Momente

Mit der Momentenmethode kann man das durchschnittliche, oder erwartete Verhalten von verschiedenen chemischen Reaktionen beschreiben. Konkret sind das zum Beispiel der Erwartungswert und die Varianz.

Die Momentenmethode bietet eine Möglichkeit, das System zu reduzieren. Anstelle der gesamten Verteilung werden überschaubar viele Momente betrachtet, die die Verteilung gut charakterisieren. Das heißt, es wird nicht die gesamte Verteilung betrachtet, sondern nur die durchschnittliche Anzahl der Moleküle oder die Varianz. Um ein konsistentes Gleichungssystem für die Momente aufzustellen, müssen diese geschlossen werden, da Momente niedriger Ordnung im Allgemeinen von höheren Ordnungen abhängen. Geschlossen heißt, man muss die Abhängigkeiten unterbrechen, um überhaupt etwas berechnen zu können, da diese sich sonst ins Unendliche steigern.

Mit dem Control-Closure-Schema bleiben die berechneten Momente in der Nähe der wahren Momente und können nicht willkürlich abweichen.

Um die Momentenmethode nutzen zu können, müssen die höheren Momente in den Gleichungen geschätzt werden. Damit diese Schätzung nicht zu wilden Ergebnissen führt, haben Nicole Radde und ihr Team eine Art Kontrollsystem entwickelt, das sogenannte Control-Closure-Schema, das dieses Problem umgeht. Im Vergleich zu anderen bestehenden Lösungen bleiben so die berechneten Momente in der Nähe der wahren Momente und können nicht willkürlich abweichen. Dieses Control-Closure-Schema hat ein großes Potenzial für eine breite Anwendung zur Beschreibung der Momente von biochemischen Reaktionssystemen.

Zum Nachlesen:

Wagner V, Strässer R, Allgöwer F, Radde N (2023). A provably convergent control closure scheme for the method of moments arising from the Chemical Master Equation, Journal of Chemical Theory and Computation 19(24), 9049–9059, DOI: 10.1021/acs.jctc.3c00548

Über die Wissenschaftlerin:

Nicole Radde hat Mathematik und Physik auf Lehramt studiert. In ihrer Diplomarbeit im Bereich der theoretischen Astrophysik und Quantenmechanik beschäftigte sie sich mit Wechselwirkungen und Neutrino-Nukleonen, wie sie im Neutronenstern vorkommen. Für ihre Promotion wechselte sie den Fokus auf den Bereich der Lebenswissenschaften und kam so zu den Anwendungen in der Biologie. Heute ist sie Professorin für Mathematische Modellierung und Simulation zellulärer Systeme an der Universität Stuttgart.

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