Freispruch im „Badewannen-Mord“ nach Gutachten von Simulationsforschern

Gutachten von Simulationsforschern mit Ergebnissen aus einer neuen, computergestützten Simulationsmethode und thermodynamischen Berechnungen ermöglichen Rekonstruktion eines angeblichen Mordfalls

Dass Simulationswissenschaftler sogar dabei helfen können, einen Mordfall aufzuklären, zeigten Syn Schmitt und Niels Hansen mit ihrer Forschung. Anhand einer neuen computergestützten biomechanischen Simulationsmethode und thermodynamischer Berechnungen konnten sie nachweisen, dass eine damals 87-jährige Frau ohne Fremdeinwirkung in ihre Badewanne gestürzt und an den Folgen dieses Sturzes zu einem Zeitpunkt gestorben sein konnte, als der Beschuldigte ein Alibi hatte. Dem 63-jährigen Manfred Genditzki, der mehr als 13 Jahre unschuldig im Gefängnis saß, haben sie dadurch im Juli 2023 zum Freispruch verholfen.

Der Fall

Lieselotte Kortüm war im Jahr 2008 tot in ihrer Badewanne aufgefunden worden. Der Hausmeister der Wohnanlage, Manfred Genditzki, geriet in Verdacht, die Frau ermordet zu haben. Obwohl er den ursprünglichen Vorwurf, Geld gestohlen zu haben, entkräften konnte, wurde er des Mordes schuldig gesprochen. Denn die Tote hatte zwei Hämatome am Kopf, weshalb angenommen wurde, dass es vorab zu einem handgreiflichen Streit zwischen ihr und Manfred Genditzki gekommen sei. Dieser beteuerte jedoch bis zuletzt seine Unschuld.

Nach vier Jahren Haftzeit übernahm die Rechtsanwältin Regina Rick die Verteidigung von Genditzki und beauftragte unter anderem Professor Syn Schmitt mit einem Gutachten, um die Wiederaufnahme des Falles zu erwirken. Schon bei der Revision im Jahr 2011 wurde er vom damaligen Verteidiger als Sachverständiger angefragt, was vom Gericht aber abgelehnt wurde. Inzwischen wurde die von den Stuttgarter Wissenschaftler*innen entwickelte Methode jedoch vom Oberlandesgericht München anerkannt und in diesem Fall zum ersten Mal in einem rechtsmedizinischen Gutachten eingesetzt.

Prof. Syn Schmitt erklärt, auf welche Weise die biomechanische Simulationsmethode den Vorfall rekonstruieren konnte.

Gutachten verändern die Beweislage

Im August 2022 entschied das Landgericht München I nach Anhörung der Sachverständigen, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens begründet sei und eine neue Hauptverhandlung stattfinden müsse. Der wegen Mordes verurteilte und seit mehr als 13 Jahren in Haft sitzende Genditzki wurde mangels dringenden Tatverdachts sofort freigelassen. Begründet wurde dies hauptsächlich mit der veränderten Beweislage aufgrund des biomechanischen Gutachtens von Schmitt und des thermodynamischen Gutachtens von Professor Niels Hansen. Hansens Forschung im Bereich Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik half, den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt auf Zeiten einzugrenzen, für die der Hausmeister ein Alibi vorweisen konnte.

Neuromechanische Simulation: Zusätzlich zur Mechanik des biologischen Körpers wird auch seine Neurophysiologie modelliert und damit auch das Nervensystem und sein Einfluss auf die mehr als 600 Muskeln miteinbezogen. Die neuromechanische Simulation ist daher sowohl biologisch als auch physikalisch näher am natürlichen Vorbild.

Zahlreiche Simulationen zur Rekonstruktion der Abläufe

Das Team um Syn Schmitt führte zahlreiche Simulationen zur Rekonstruktion möglicher Abläufe im Badezimmer durch. Mithilfe der biologischen Daten der verstorbenen Frau wie Größe, Gewicht, der spezifischen Gewichtsverteilung bei älteren Personen und der Knochenlänge entwarfen die Wissenschaftler*innen ein personenspezifisches Modell und rekonstruierten den Vorgang. Die Frage war, ob ein Sturzgeschehen ohne Fremdeinwirkung aus einer Anfangssituation – Frau vor der Badewanne stehend – zu einer Endlage führen kann, die mit dem vorgefundenen Endzustand übereinstimmt. Mit Endzustand ist die Leiche gemeint, wie sie in der Badewanne lag, mit zwei Hämatomen am Kopf, die Schuhe und der Stock der Toten vor der Wanne.

Simulation des Falls

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Video-Transkription

Das Menschmodell

Die Animation zeigt das Menschmodell der rekonstruierten Lieselotte K. in einer typischen Haltung bei der Bedienung von Wasserhähnen an der Badewanne. Die linke Hand stützt sich am Wannenrand ab, mit beiden Beinen wird versucht, die Knie an der Wanne abzustützen und der Körper ist bereits in gebeugtem Oberkörper über der Wanne. Mehrere Ereignisse könnten dann für die folgende Fallbewegung ursächlich sein: akuter Schwindel, neurologische Störung, einfacher Gleichgewichtsverlust, Ausrutschen am Boden, etc. Die damit ausgelöste Fallbewegung führt zum Hineinfallen des Oberkörpers mit mindestens zweimaligem Kopfkontakt an der Badewanne. Gleichzeitig wird durch die Oberkörperrotation in die Wanne und die steifen Gelenke der alten Dame das entlastete Bein nach hinten geschleudert und mit in die Drehbewegung einbezogen. Durch Kontakt mit dem Wannenrand und dem bereits in der Wanne liegenden Oberkörper wird das rechte Bein vollständig in die Wanne verbracht. Eine durch den Kopfkontakt aufgetretene teilweise oder vollständige Bewusstlosigkeit führt zur Muskelerschlaffung und damit zu einem Verharren in der eingenommenen Endlage.

Wegweisend für andere Verfahren

Alle Simulationen führten zum gleichen Ergebnis: Ein Sturz ohne Fremdeinwirkung war wahrscheinlich, so dass es sich um einen Unfall gehandelt haben konnte. „Unsere Methode ist in der Lage, objektiv und transparent zu untersuchen, welche Bewegungen abhängig von den Gesetzen der Physik möglich sind“, erklärt Syn Schmitt. Auch die Experimente und theoretischen Berechnungen von Niels Hansen zur Eingrenzung der Wassertemperatur zum Zeitpunkt der Auffindung des Leichnams entlasteten Manfred Genditzki. Ein darauf aufsetzendes, etabliertes Verfahren zur temperaturgestützten Todeszeitschätzung legte den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt weit außerhalb des eigentlich angenommenen Tatzeitpunkts fest. „Die thermodynamische Analyse war somit ein wichtiger Baustein und könnte in anderen Verfahren zum Einsatz kommen,“ sagte Niels Hansen zum Ausgang des Prozesses.

„Tatsächlich ist es in Bayern noch nie zur Aufhebung einer lebenslangen Freiheitsstrafe im Rahmen einer Wiederaufnahme gekommen. Der Freispruch Genditzkis ist somit ein historischer Sieg.“

Der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Gerhard Strate

Die beiden Wissenschaftler freuten sich, dass sie mit ihren Gutachten einen wichtigen Beitrag in diesem Prozess leisten konnten. „Zum ersten Mal wurde das von uns mitentwickelte, biomechanische Simulationsverfahren als Beweismethode vor Gericht anerkannt. Das ist ein großer Erfolg für unsere Wissenschaft und insbesondere für das Stuttgarter Exzellenzcluster Daten-integrierte Simulationswissenschaft", ergänzt Syn Schmitt.

Die Wissenschaftler

Niels Hansen ist stellvertretender Institutsleiter des Instituts für Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik an der Universität Stuttgart und Professor für Molekulare Thermodynamik. Im Exzellenzcluster SimTech erforscht er die Optimierung von porösen Materialien mit Anwendungen in Energiespeicherprozessen. Niels Hansen hat an der TU Hamburg Verfahrenstechnik studiert und dort in der Chemischen Reaktionstechnik promoviert.

Syn Schmitt ist Direktor des Instituts für Modellierung und Simulation biomechanischer Systeme an der Universität Stuttgart und Professor für Computergestützte Biophysik und Biorobotik. Er forscht im Exzellenzcluster SimTech an der Simulation biomechanischer Systeme. Syn Schmitt hat Physik auf Diplom und Physik und Sport auf Lehramt studiert und anschließend an der Universität Tübingen in Theoretischer Physik (Biophysik) promoviert. 

2008 startete er an der Universität Stuttgart im damaligen SimTech Exzellenzcluster EXC310, wurde anschließend Juniorprofessor und übernahm 2018 im neu gegründeten Institut für Modellierung und Simulation biomechanischer Systeme schließlich eine Professur.

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