Verbesserte Materialien durch Verständnis auf der atomaren Skala

27.09.2024

Mit Hilfe maschinellen Lernens gelang es SimTech-Wissenschaftlern, das Verhalten von einer Million Atomen mit bisher unerreichter Genauigkeit zu simulieren. Damit unterstützen sie die Entwicklung neuer Materialien z.B. für Flugzeugturbinen oder Energiespeicher wie Batterien und Akkus.

Geschichten von explodierenden Handys, brennenden E-Bike-Akkus oder E-Autos machen gelegentlich Schlagzeilen. Auch wenn es nicht so oft passiert, wie es scheint, geht von den sehr häufig eingesetzten Lithium-Ionen-Batterien eine gewisse Gefahr aus. „Sie sind anfällig für Störungen, teilweise auch dramatische Störungen, die zum Entflammen und Explodieren führen können. Eine vielversprechende Alternative ist es, die in Akkus enthaltenen brennbaren Flüssigelektrolyte durch sicherere Festkörper-Elektrolyte zu ersetzen“, sagt Blazej Grabowski, Professor am Institut für Materialwissenschaft an der Universität Stuttgart. Er arbeitet mit seinem Team daran, diese neuartigen Elektrolyte zu verbessern und erforscht, welche Materialien für die Elektrolyte verwendet werden können.

Ab initio bezeichnet in der Materialwissenschaft eine Methode, die auf grundlegenden physikalischen Prinzipien beruht, um Materialien und ihre Eigenschaften zu untersuchen. Ab initio-Berechnungen benötigen keinen experimentellen Input, sondern lösen quantenmechanische Gleichungen, um die Struktur, Energie und andere Eigenschaften von Materialien vorherzusagen. Diese Methode ermöglicht es, das Verhalten von Materialien auf atomarer Ebene zu verstehen und zu modellieren, ohne auf experimentelle Beobachtungen angewiesen zu sein.

Dazu untersuchen er, Dr. Yuji Ikeda und Nachwuchswissenschaftler Yongliang Ou das Material auf atomarer Ebene mit ab initio-Methoden. „Laden oder entladen wir einen Akku, dann sind Prozesse auf atomarer Ebene relevant. Positiv geladene Lithiumionen, wandern zwischen Kathode und Anode hin und her. In die eine Richtung, wenn der Akku aufgeladen wird, in die andere Richtung, wenn er entladen wird“, erklärt Grabowski. Dabei ermüdet das Material und geht mit der Zeit kaputt. 

Mit quantenmechanischen Theorien und Prinzipien haben die Wissenschaftler simuliert, wie sich Lithiumionen durch das Kristallgitter bewegen. „Wenn man sich auf dieser Skala befindet, wo Elektronen um Atomkerne schwirren und die grundlegenden Bindungen im Material entstehen, dann führt an der Quantenmechanik kein Weg vorbei“, so Grabowski. Quanten sind die kleinsten, nicht teilbaren Mengen einer physikalischen Einheit.

Das Verhalten von einer Million Atome simulieren

Mit den Prinzipien der Quantenmechanik und mit Hilfe von maschinellem Lernen war es den Wissenschaftlern nun möglich, die Simulation von bisher einigen hundert auf eine Million Atome zu erweitern. „Man muss sich nur mal vorstellen, wie viele Atome in einem kleinen Kubikmillimeter eines Materials sind. Das sind etwa eine Million Atome in jede Richtung, also eine Million hoch drei. Eigentlich ist das unvorstellbar“, so Grabowski. 

Zum Glück muss man nicht direkt diese unvorstellbare Zahl an Atomen simulieren. Die nun erreichbare Anzahl von einer Million Atomen macht es bereits möglich, die entscheidenden Defekte in Kristallen mit nahezu ab initio-Genauigkeit zu simulieren. Diese Defekte haben einen sehr großen Einfluss auf das Materialverhalten. 

Defekte in Kristallen

Korngrenze in einem Kristallgitter: Die Korngrenze verläuft mittig von unten nach oben und erstreckt sich auch in die Dimension aus der Papierebene heraus.

  • Korngrenzen sind zweidimensionale Gitterfehler, die zwei Kristalle derselben atomaren Struktur aber unterschiedlicher Ausrichtung miteinander verbinden.
  • Versetzungen sind eindimensionale Defekte in einem Kristallgitter, bei denen die regelmäßige Anordnung der Atome entlang einer Linie gestört ist. Typischerweise treten Versetzungen in Metallen auf und ermöglichen deren plastische Verformung.
  • Vakanzen bzw. Leerstellen sind nulldimensionale Punktdefekte in Kristallen. Einfacher ausgedrückt, es fehlen Atome an Stellen wo sie eigentlich entsprechend der Kristallstruktur sein sollten. Vakanzen ermöglichen die Bewegung von Atomen durch das Kristallgitter.

Bis die Wissenschaftler aber das Verhalten vom Atom bis zur jeweiligen Anwendung simulieren können, müssen mehrere Größenordnungen überbrückt werden. Dafür entwickeln sie geeignete Methoden innerhalb eines sogenannten Multiskalenansatzes. Mit diesem können die unterschiedlichen Größenordnungen und physikalischen Welten über viele Skalen in der Simulation überbrückt werden. Um zum Beispiel die Lithiumbewegung auf der Mikro- und Millimeterskala zu verstehen, werden die Ergebnisse aus den atomistischen Simulationen an die SimTech-Kollegen Professor Felix Fritzen und Nachwuchswissenschaftlerin Lena Scholz aus dem Kontinuumsbereich weitergegeben. Auch hier helfen Ansätze aus dem maschinellen Lernen weiter.

„Das Potenzial des maschinellen Lernens ist extrem wichtig bei der Überbrückung der Skalen. Ab initio-Rechnungen selbst sind nicht neu. Jedoch konnten wir erst mit Hilfe des maschinellen Lernens, die Genauigkeit der ab initio-Methode auf eine größere Skala bringen, um beispielsweise die Lithiumdiffusion durch einen komplexen Kristall mit Defekten zu simulieren“, erklärt Blazej Grabowski. Mit herkömmlichen ab initio-Methoden kann man nur einige hundert Atome simulieren, denn die Simulationen brauchen extrem viel Rechenleistung. Das maschinelle Lernen – speziell in Form von sogenannten maschinell gelernten interatomaren Potentialen – reduziert die notwendige Rechenleistung und der Zeitaufwand verringert sich. Mit diesem Ansatz haben es die Wissenschaftler geschafft, das Verhalten von bis zu einer Million Atomen mit hoher Genauigkeit zu simulieren. 

Multiskalen-Ansatz 

Multiskalen-Ansatz, verdeutlicht am Beispiel eines vereinfachten Modells einer Festkörper-Lithium-Ionen-Batterie: Angefangen bei ab initio Methoden (ganz rechts) befinden wir uns auf der atomaren Skala mit Längen typischerweise in Ångström (Å) ausgedrückt. Ein Å entspricht einem zehnmillionsten Teil eines Millimeters. Die in diesem Bereich relevante Zeiteinheit ist eine Femtosekunde, ein Billiardstel einer Sekunde. Bewegt man sich auf der polykristallinen Ebene (zweites Bild von rechts) benutzt man eher Mikrometer (µm), welches 0,001 Millimeter entspricht, und für die Zeiteinheit die Millisekunde, also 0,001 Sekunde. Bewegen wir uns auf der Ebene einer einzelnen Batteriezelle (zweites Bild von links) sind die natürlichen Einheiten der Millimeter und die Sekunde. Die größte Skala ist die „anfassbare“ Ebene der Anwendung, hier die Batterie ganz links, mit den natürlichen Einheiten Meter und Stunden.

Simulation von Hightech-Materialien für Flugzeugturbinen

Um Materialen verbessern zu können, ist es essentiell, die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Atomen genau zu verstehen. Diese Wechselwirkungen bestimmen beispielsweise die stark temperaturabhängige Bewegung von Versetzungen, welche ihrerseits für die plastische Verformung von Materialien verantwortlich sind. „Wenn man es zum Beispiel schafft, Flugzeugturbinen bei etwas höheren Temperaturen operieren zu lassen, kann man an Effizienz gewinnen. Bereits ein paar Grad mehr, die die Materialen in der Turbine aushalten, können sich positiv auf den Treibstoff- und damit den Energieverbrauch auswirken“, so Grabowski.

So müssen Nickel-basierte Superlegierungen, die in den innersten Turbinenblättern eingebaut sind, über lange Zeit und viele Zyklen extrem hohe Temperaturen und Drücke aushalten, damit das Material nicht einfach wegschmilzt oder sich verformt. „Das sind fantastische Hightech-Materialien, die in Turbinen verbaut sind. Diese sind an sich nicht neu, aber die genauen Prozesse, die zu den einzigartigen Materialeigenschaften beitragen, sind nicht vollständig verstanden.“, sagt Grabowski. Zusammen mit Dr. Xi Zhang und Nachwuchswissenschaftler Xiang Xu konnte er mit Simulationen von komplexen Versetzungen dazu beigetragen, das Materialverhalten auf der atomaren Skala besser zu verstehen. Dieses Verständnis ist wertvoll für die weitere Optimierung und das Design neuer Materialien für solche extremen Anwendungen.

Komplexe Versetzung

Das Bild zeigt eine komplexe Versetzung in dem Material Ni3Al, welches fundamental zu den einzigartigen Materialeigenschaften von Nickel-Superlegierungen beiträgt. Die gezeigten Atome liegen innerhalb des sogenannten Versetzungskernes, welcher verschiedene strukturelle Komponenten enthält, die durch die unterschiedlichen Farben gekennzeichnet sind. 

Ob ihre Simulationen in die Praxis übertragbar sind, überprüfen die Wissenschaftler kontinuierlich durch Vergleiche mit experimentellen Daten aus der wissenschaftlichen Literatur. „Selbst die ab initio-Methoden enthalten Näherungen, deren Auswirkungen genau überprüft werden müssen. Verbesserungen der Näherungen erlauben es, immer belastbarere Ergebnisse zu erzielen und Experimente genauer zu reproduzieren bzw. vorherzusagen“, so Grabowski. Wenn es noch keine experimentellen Daten zu bestimmten Eigenschaften gibt, kooperieren sie mit anderen Forschern aus Wissenschaft und Industrie, um diese zu bekommen.

An echten Flugzeugturbinen arbeiten er und sein Team aber nicht – das überlassen sie den Ingenieuren. „Wir arbeiten nur an den einzelnen Materialien, die eine Turbine später ausmachen. Die Ingenieure, die die Turbine zusammenbauen, müssen wissen, bis zu welcher Temperatur das Material standhält und entscheiden sich anhand verschiedener Kriterien für das optimale Material.“ Mit ihrer Grundlagenforschung liefern Blazej Grabowski und sein Team den Input, den die Ingenieure brauchen. Mit ihren Simulationen tragen sie zu einem tieferen Verständnis bei und legen so den Grundstein für die nächste Generation funktioneller und struktureller Materialien.

Manuela Mild | SimTech Science Communication

Zum Weiterlesen

Gubaev, V. Zaverkin, P. Srinivasan, A. I. Duff, J. Kästner, and B. Grabowski. “Performance of two complementary machine-learned potentials in modelling chemically complex systems”. In: npj Computational Materials 9 (2023), p. 129. DOI: 10.1038/s41524-023-01073-w

Ou, Y. Ikeda, L. Scholz, S. Divinski, F. Fritzen, B. Grabowski. „Atomistic modeling of bulk and grain boundary diffusion in solid electrolyte Li6PS5Cl using machine-learning interatomic potentials” (2024). DOI: 10.48550/arXiv.2407.04126

Xu, X. Zhang, E. Bitzek, S. Schmauder, and B. Grabowski. “Origin of the yield stress anomaly in L12 intermetallics unveiled with physically-informed machine-learning potentials” (2024). DOI: 10.48550/arXiv.2406.04948

H. Jung, P. Srinivasan, A. Forslund, and B. Grabowski. “High-accuracy thermodynamic properties to the melting point from ab initio calculations aided by machine-learning potentials”. In: npj Computational Materials 9 (2023), p. 3. DOI: 10.1038/s41524-022-00956-8

Forslund, J. H. Jung, P. Srinivasan, B. Grabowski. „Thermodynamic properties on the homologous temperature scale from direct upsampling: Understanding electron-vibration coupling and thermal vacancies in bcc refractory metals”. In: Physical Review B 107 (2023), p. 174309. DOI: 10.1103/PhysRevB.107.174309

 

  

Über den Wissenschaftler

Blazej Grabowski studierte Physik an der Universität Paderborn und hat dort sowie am Max-Planck-Institut für Eisenforschung (jetzt: Max-Planck-Institut für Nachhaltige Materialien) in Düsseldorf promoviert. Seit 2019 ist er Professor am Institut für Materialwissenschaft an der Universität Stuttgart und beschäftigt sich seither verstärkt mit Batterie- und Energiematerialien. Auf einer Skala zu arbeiten, wo Dinge einfach als gegeben angenommen werden ohne sie weiter zu verstehen, findet er unbefriedigend. Was ihn in seiner Forschung antreibt, ist das Streben nach einem tiefen Verständnis von Materialien. Das Umfeld im Exzellenzcluster SimTech und an der Universität Stuttgart sei dafür wunderbar, so der Wissenschaftler. In SimTech ist er Projektnetzwerkkoordinator von PN3 „Data-Integrated Design of Functional Matter Across Scales“ und leitet das Projekt PN 3-10 (II) sowie das assoziierte Projekt PN 3 A-4, für das in 2019 ein ERC Consolidator Grant an ihn ausgelobt wurde.

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