Der ehemalige Basketballplatz auf dem Campus der Universität Stuttgart in Vaihingen ist kurzerhand zur Teststrecke erklärt worden. Die drei SimTech-Doktoranden Robin Strässer, David Meister und Marc Seidel sowie Felix Brändle, die alle am Institut für Systemtheorie und Regelungstechnik (IST) bei Prof. Dr.-Ing. Frank Allgöwer promovieren, haben einen Laptop aufgebaut und einen Prototyp eines autonom fahrenden E-Scooters mitgebracht. Das ist ein ganz normaler E-Scooter, wie man ihn kaufen oder mieten kann und mittlerweile in fast jeder Stadt findet. Aber dieser E-Scooter hat eine Besonderheit.
An der Stange über dem Vorderrad ist ein Gehäuse angebracht, hinter dem sich einige technische Komponenten verbergen: ein Lenkmotor, damit der Scooter selbständig Kurven fahren kann, ein Reaktionsrad, damit er das Gleichgewicht nicht verliert und während des Fahrens nicht umkippt, ein GPS-Empfänger und weitere Sensorik, kleine Computer, die alles auswerten, elektrische Komponenten zur Stromversorgung und natürlich Kabel.
Das Gehäuse des E-Scooters ist die Arbeit der vier Doktoranden, die daran tüfteln, wie der Roller Kollisionen vermeiden kann. Bei einer Testfahrt über den Basketballplatz demonstriert Robin Strässer die Entwicklung des E-Scooters und kreuzt seinen Weg: Dieser bremst selbständig und kommt noch vor ihm zum Stehen. Damit Hindernisse erkannt werden können, haben die vier Nachwuchswissenschaftler vorne am Gehäuse drei Ultraschallsensoren angebracht, die Signale aussenden und reflektieren und so Entfernungen messen können.
Zuverlässige Daten trotz Sensorausfall und Messfehlern
„Die Messdaten der Ultraschallsensoren sind jedoch manchmal fehlerhaft“, erklärt Robin Strässer. „Deshalb haben wir drei unabhängige Sensoren verwendet. So können wir sicherstellen, dass wir zumindest in der Summe korrekte Daten haben und den echten Abstand messen können, auch wenn einzelne Daten fehlerhaft sind.“ Dazu werden die Signale der Ultraschallsensoren gefiltert. Filtern heißt: Es werden mehrere Messungen miteinander verknüpft und die Filterdaten über einen bestimmten Zeitraum geglättet. So werden die gemessenen „Ausreißer“-Daten auch als Ausfall erkannt und für die Berechnung des tatsächlichen Abstands nicht berücksichtigt. Damit stellen die Nachwuchswissenschaftler sicher, dass die Hindernisse trotzdem erkannt werden und der E-Scooter sicher und selbständig anhält.
Seit 2019 wird am IST an dem Projekt geforscht. Die Vier sind bereits die dritte Generation von Doktoranden, die neben ihrem Promotionsprojekt an dem E-Scooter arbeitet - freiwillig, da das E-Scooter-Projekt von ihren jeweiligen Promotionsprojekten losgelöst ist. „Mein Promotionsprojekt ist sehr theoretisch. Deshalb ist das Coole am E-Scooter, dass wir die Theorie in die Praxis umsetzen und sofort sehen können, wie sich das physikalische System verhält“, sagt Robin Strässer. Er empfinde es zudem als eine schöne Abwechslung, in diesem relativ großen Team die verschiedenen Projekte zu koordinieren. Denn außer den vier Doktoranden arbeiten noch insgesamt zwölf weitere Personen daran.
Das sind Studierende, die im Projekt mithelfen oder die ein Teilprojekt des autonom fahrenden E-Scooters in ihrer Bachelor- oder Masterarbeit umsetzen. So müssen verschiedene Projekte aus unterschiedlichen Disziplinen wie Informatik, Regelungstechnik oder Mechanik zusammengebracht werden, so dass das Gesamtsystem funktioniert. „Dabei hat mir das Studium der Simulationstechnologie sehr geholfen. Auch dort werden Inhalte aus vielen Disziplinen behandelt“, ergänzt Robin Strässer.
Ziel ist ein nachhaltiger Campus
Der autonome E-Scooter ist ein Teilprojekt von MobiLab, mit dem Ziel, die Bewegung auf dem Campus der Universität Stuttgart emissionsfrei zu gestalten. „Unser E-Scooter ist mittlerweile der dritte Prototyp seit dem Projektstart“, erzählt Marc Seidel. Der erste Prototyp konnte sich bereits selbst stabilisieren und mit langsamer Geschwindigkeit geradeaus fahren. Beim zweiten Prototyp lag der Fokus auf Entwicklungen rund um die Kurvenfahrt. Der dritte Prototyp soll nun selbständig zum nächsten Einsatzort fahren und bremsen, wenn ihm ein Hindernis in die Quere kommt oder eine Person über den Weg läuft, auch bei schnelleren Geschwindigkeiten. Der E-Scooter kann mit einer Person 20 Stundenkilometer fahren, und zwar wie handelsübliche E-Scooter manuell gesteuert. Wenn er autonom fährt, fährt er Schrittgeschwindigkeit, das heißt etwa fünf Kilometer pro Stunde.
Über Simulationen haben die vier Doktoranden berechnet, wie die Ultraschallsensoren angeordnet sein müssen, um ein bestimmtes Sichtfeld vor dem E-Scooter mit der Signalerkennung abzudecken, so dass keine Hindernisse in einem blinden Fleck übrigbleiben. „Unser Ziel ist es nun, das Sichtfeld der Sensoren noch zu vergrößern“, erklärt Robin Strässer. „Denn wenn wir große Kurven oder eine schnellere Geschwindigkeit haben, ist es wichtig, ein breiteres Sichtfeld zu haben, damit der E-Scooter auch in der Kurve noch ein Hindernis erkennen und sicher anhalten kann“. Deshalb müssten noch zusätzliche Sensoren angebracht werden.
Durch die autonomen E-Scooter soll aber nicht nur der Campus der Universität Stuttgart nachhaltiger werden. Das Problem der E-Scooter, die in vielen Städten zahlreich unterwegs sind und Bürgersteige blockieren oder irgendwo herumliegen, könnte gelöst werden, wenn sie sich autonom wieder verteilen, oder selbständig zur Ladestation fahren könnten. So könnten nicht nur die Emissionen der Fahrzeuge verringert werden, die die Roller wieder einsammeln müssen, sondern auch die Anzahl an E-Scootern.
Manuela Mild | SimTech Science Communication
Der autonome E-Scooter wird am Institut für Systemtheorie und Regelungstechnik unter dem Namen eStarling.io und unter der Leitung von SimTech’s Principal Investigator Prof. Dr.-Ing. Frank Allgöwer entwickelt. Das Projekt ist Teil des Mobility Living Lab der Universität Stuttgart.
Zum Nachlesen
Strässer, R., Seidel, M., Brändle, F., Meister, D., Soloperto, R., Hambach Ferrer, D., & Allgöwer, F. (2024). Collision Avoidance Safety Filter for an Autonomous E-Scooter using Ultrasonic Sensors. Accepted for presentation at the 17th IFAC Symposium on Control in Transportation Systems (CTS 2024), Preprint: arxiv:2403.15116.
Über die Nachwuchswissenschaftler
David Meister (li.) hat Maschinenbau an der TU Darmstadt studiert, Marc Seidel (2. v.li.) und Felix Brändle (3. v.Li.) haben ein Studium der Technischen Kybernetik an der Universität Stuttgart absolviert, und Robin Strässer (re.) hat Simulation Technology an der Universität Stuttgart studiert.
Alle vier promovieren nun am Institut für Systemtheorie und Regelungstechnik an der Universität Stuttgart - David, Marc und Robin in Projekten von SimTech. Die Forschung am E-Scooter ist losgelöst von ihren Promotionsthemen mit theoretischem Schwerpunkt, aber bietet als praxisnahe Forschung einen spannenden Ausgleich.