Die Funktionsweise der Leber simulieren

11. März 2025

Mit einem digitalen Zwilling der Leber wollen SimTech-Forschende mehr über die Funktionsweise des Organs herausfinden. Das soll die Prognose bei Leberkrebs verbessern, Operationen vereinfachen und für eine höhere Trefferquote bei Lebertransplantationen sorgen.

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Was hat eine Leber am Institut für Statik und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen zu suchen? Tim Ricken, Professor und Leiter des Instituts an der Universität Stuttgart, hat dafür eine plausible Erklärung: „Die Basis für das Institut ist die Mechanik. Ihre Grundlagen und Werkzeuge lassen sich auch auf multiphysikalische Fragestellungen wie in der Biomechanik anwenden.“ Und dazu gehört auch die Funktionsweise der Leber, die als blaues Kunststoffmodell vor Tim Ricken auf dem Tisch liegt.

Der Luft- und Raumfahrtingenieur betrachtet die Leber als ein poröses Medium, das von vielen Blutgefäßen durchzogen ist, durch die Nähr- und Schadstoffe hinein- und hinausbefördert werden. „Die Grundidee ist, einen digitalen Zwilling der Leber zu erstellen“, erklärt Ricken. „Damit kann man nicht nur mehr Wissen über die Funktionsweise generieren, sondern auch neue Operationstechniken entwickeln und ein besseres Match bei Lebertransplantationen erzielen. Und man kann die Anzahl der Tierexperimente reduzieren, die man braucht, um später neue Medikamente zu entwickeln.“

Entscheidungshilfe-Tool für Lebertransplantate

Die Transplantation ist bei Lebererkrankungen im Endstadium häufig die einzige Behandlungsoption, die noch eine Heilung verspricht. Der demografische Wandel und der westliche Lebensstil führen dazu, dass die Zahl der chronischen Lebererkrankungen stetig zunimmt. Gleichzeitig gibt es immer mehr ältere potenzielle Empfänger* und Spender mit mehreren Vorerkrankungen gleichzeitig. Die Leber von solchen Spendern entsprechen häufig nicht vollständig den Kriterien für ideale Spenderorgane.

„Eine Leber, die gespendet wird, muss auch immer zum Körper des Empfängers passen. Und da es zu wenige Spenderorgane gibt, stellt sich die Frage, ob man auch eine nicht ganz so gut passende Leber verwenden könnte“, erklärt Tim Ricken. Das könne die Anzahl der möglichen Spender erhöhen. „Da würde dann eine Leber, die auf Grund ihres Zustands abgelehnt wurde, medizinisch trotzdem noch für bestimmte Empfänger infrage kommen.“ 

Marginale Transplantate nennt man Organe, die die Kriterien für ideale Spenderorgane nicht vollständig erfüllen, weil sie beispielsweise durch Vorerkrankungen beeinträchtigt sind.

Erkrankungen wie hepatische Steatose zum Beispiel, eher bekannt unter dem Namen Fettlebererkrankung, beeinträchtigen die Qualität eines Spenderorgans erheblich. Durch die Krankheit verändert sich die Gewebestruktur, was die Durchblutung einschränkt und wiederum den Leberstoffwechsel und die Organfunktion negativ beeinflusst. Im Falle eines marginalen Transplantats steht der Chirurg dann vor der Entscheidung, das Organ zu akzeptieren oder es abzulehnen. Lehnt er es ab, erhöht sich das Sterberisiko der Erkrankten, noch während sie auf der Warteliste stehen.

Um die Ärzte bei der Diagnose, Prognose und therapeutischen Entscheidungen zu unterstützen, entwickeln Tim Ricken und sein Team ein klinisches Entscheidungshilfe-Tool. Als Grundlage dient ein biomechanisches Modell eines Leberläppchens, welches die Funktionseinheit der Leber darstellt. Mit ihm kann die Perfusion simuliert werden, das heißt der Durchfluss des Blutes durch das Lebergewebe.

Simulationsergebnisse einer Gruppe von sieben Leberläppchen

Einlagerung von Nährstoffen nach 1610 Sekunden Simulationszeit. Erste Spalte: Konturdiagramm für FFA-Konzentration (FFA=Freisetzung freier Fettsäuren). Zweite Spalte: Konturdiagramm für Sauerstoffkonzentration. Dritte Spalte: Konturdiagramm für Fettanteil. (a) Ungestörte Verteilung, (b) Abflussbehinderung, (c) Abflussbehinderung unter Berücksichtigung der Durchlässigkeit (aus Lambers et al. [2024].

Co-Design mit Ärzten und Systembiologen

Dieses Modell wird dann mit klinischen Daten gefüttert. Dazu gehören beispielsweise Gewicht, Größe und Alter, aber auch bestimmte Lebermarker. Das sind Proteine, anhand derer der Zustand der Leber bewertet werden kann. Zusätzlich wird das Modell um Daten zur kalten Ischämiezeit und Daten über die Schädigung durch die Reperfusion erweitert. Dabei spielt die Transportzeit eine Rolle. Und da jede Leber einen anderen Zustand hat, muss sie auch jeweils anders perfundiert, also wieder durchblutet werden. „Mit diesem wissensbasierten Computermodell möchte man dann den Zustand der Spenderleber und den Zustand des Empfängers abgleichen und ein besseres Match finden“, sagt Tim Ricken.

Zwei große Herausforderungen bei marginalen Leber-Transplantaten sind zum einen die Lagerung zwischen Organbeschaffung und Transplantation (kalte Ischämiezeit), weil die Leber in dieser Zeit nicht durchblutet wird und zum anderen die Schädigung nach der Reperfusion, wenn die Gefäße wieder mit Blut versorgt und „aufgepumpt“ werden.

Damit die Wissenschaftler wissen, was sie modellieren sollen, arbeiten sie eng im sogenannten Co-Design mit Experten der Unikliniken in Jena und Leipzig zusammen. „Wir treffen uns regelmäßig mit unseren klinischen Partnern, die uns dann genau sagen, was die Modelle können müssen und welche Inputs und Outputs es gibt“, erklärt Lena Lambers, die die Arbeitsgruppe „Biomechanik“ am Institut für Statik und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen leitete.

„Der Input aus der Klinik hilft uns, die Fragestellungen festzulegen, die mit unserem digitalen Zwilling gelöst werden sollen. Also wo liegen die Probleme oder welche Parameter sind wichtig, damit eine Leber mit einem fremden Körper zusammenpasst,“ so Tim Ricken. Das Co-Design erstreckt sich nicht nur auf die Kommunikation der Ingenieure mit den Medizinern, es besteht auch ein enger Kontakt zu den Systembiologen an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Charité in Berlin.

Diese simulieren auf Zellebene das Verhalten der Zelle anhand von Differentialgleichungen. Das sind teilweise sehr komplexe Modelle mit manchmal hunderten von Gleichungen, die gleichzeitig gelöst werden müssen, nur für eine einzige Zelle. „Da gibt es ganz viele verschiedene Prozesse, die darin stattfinden. Man hat festgestellt, dass ­– je nachdem, wo die Zelle der Leber sitzt – sie andere Funktionen hat. Sie ist also unterschiedlich differenziert. Um das zu verstehen, muss man erst mal verstehen, wie die Leber grundsätzlich aufgebaut ist. Sie ist erst mal ein poröses Medium“, so Tim Ricken.

Multiskalige Simulationen berücksichtigen Daten von verschiedenen Ebenen oder Größenskalen. Auf der Mikroebene kann das die Interaktion einzelner Organzellen mit dem Blut sein, die auf etwa einem halben Millimeter in Kontakt miteinander kommen. Auf der Mesoebene kann es der Blutdurchfluss durch einzelne Organe, auf der Makroebene durch den gesamten Körper sein.

Individualisierte Modelle

In einem weiteren Projekt entwickeln die Wissenschaftler ein Modell, um das Tumorwachstum in der Leber zu simulieren. Ziel ist es, individuelle Patientenprognosen erstellen zu können. Dazu betrachten sie wieder ein Leberläppchen als Funktionseinheit, um den Blutfluss durch die Leber zu simulieren. „Das haben wir dann mit anderen Skalen gekoppelt, zum Beispiel dem Blutfluss im gesamten Organ oder der Funktion der Leberzellen mit Prozessen im gesamten Körper“, erzählt Lena Lambers.

Sie haben zunächst ein wissensbasiertes Modell entwickelt und es mit ersten klinischen Daten gefüttert. „Jetzt geht es darum, dieses Modell noch zu erweitern, auch im Hinblick einer klinischen Nutzbarkeit.“ In das Modell sollen nun individuelle Patientendaten wie zum Beispiel das Tumorvolumen, Vorerkrankungen oder der Blutdruck einbezogen werden. Das soll es ermöglichen, personalisierte Simulationen zu erstellen.

Surrogatmodelle oder Ersatzmodelle sind mathematische Modelle, die das Verhalten des Simulationsmodells so genau wie möglich nachahmen. Mit Hilfe von maschinellem Lernen und neuronalen Netzen, die physikalische Gesetze berücksichtigen, werden die Surrogatmodelle mit Daten und Ergebnissen aus der Simulation trainiert. So erhält man vereinfachte Modelle, die in wesentlich kürzerer Zeit präzise Vorhersagen treffen können.

Praxistest zur Überprüfung in der Realität

Auch hier arbeiten die Wissenschaftler mit Kooperationspartnern aus der experimentellen und klinischen Chirurgie der Unikliniken in Jena und Leipzig zusammen. „Ein Problem unserer Modelle ist, dass sie noch etwas lange rechnen für den wirklichen klinischen Anwendungsfall“, sagt Lena Lambers. Es könne Stunden, aber auch Tage dauern, bis ein Ergebnis zustande komme. Deshalb entwickeln sie sogenannte Surrogatmodelle, mit denen man einfacher und schneller rechnen kann. 

Um zu überprüfen, ob die Modelle der Realität standhalten, sollen sie in einem ersten Praxistest, einem sogenannten Proof of Concept überprüft werden. „Das muss man sich so vorstellen, dass der Chirurg einen Patienten auf ganz normalem Weg behandelt, wie er das immer im klinischen Alltag macht. Und die Idee ist, dass ein anderer Mitarbeiter dies mit unserem Modell begleitet und nachrechnet, ob das Modell das Ergebnis vorhergesagt hätte, wie es in der Realität ist“, erläutert Lena Lambers.

Staging-System zur Beurteilung von Lebertumoren

Mit Hans-Michael Tautenhahn, einem Chirurgen des Universitätsklinikums Leipzig, der selbst viele Lebertransplantationen durchführt, arbeiten die Wissenschaftler an der Weiterentwicklung eines Staging Systems. Das ist ein System, das die Mediziner in der Beurteilung eines Patienten unterstützt. „Im Bereich der Tumorbildung und Tumorbehandlung für die Leber haben sie an der Uniklinik in Leipzig ein sogenanntes Tumor Board.  Das heißt, verschiedene Mediziner aus unterschiedlichen Disziplinen der Klinik kommen zusammen und besprechen einen Patienten“, erklärt Tim Ricken. „Und wir führen nun exemplarisch für bestimmte Patienten eine solche Simulation durch.“

Die Mediziner können sich anschließend die Ergebnisse der Simulation anschauen. „Da stellen sich uns eben auch ganz praktische Fragen: wie stellen wir die Ergebnisse dar? Wenn wir eine solche Simulation durchführen, dann sind das Millionen von Daten. Das sind irgendwelche Simulationsbilder von Strömungen und Funktionskarten auf unterschiedlichen Skalen“, so Ricken. „Was können die Mediziner davon überhaupt gebrauchen? Können sie das überhaupt lesen, wie können sie es lesen und wie schnell muss das gehen?“

Prototyp eines simulationsgestützten Bewertungssystems zur Unterstützung klinischer Therapieentscheidungen

Patientenspezifische Daten über die Geometrie der Leber und des Stoffwechsels werden in die Simulation integriert. Das System unterstützt die Mediziner bei der Beurteilung eines Patienten.

Das Staging System könnte beispielsweise über verschiedene Farben von Grün über Gelb bis Rot eine Einteilung der Patienten vornehmen. Durch die Simulationen soll es verfeinert werden, so dass die Prognosen genauer werden und in die Entscheidungsfindung einfließen können. „Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg“, bemerkt Ricken, denn bevor so ein System in die breite Anwendung komme, müsse es zertifiziert werden. „Da sind die USA schon sehr viel weiter.

Dort gibt es bereits ein bestimmtes Prozedere, nachdem man nach der amerikanischen Gesundheitsbehörde mit Hilfe von digitalen Zwillingen oder numerischen Simulationen einen Zertifizierungsprozess durchführen kann. Das gibt es in Europa noch nicht. Dass wir noch keine geregelten Verfahren haben, nach denen das ablaufen könnte, ist tatsächlich ein Bremsklotz von behördlicher Seite aus.“ Tim Ricken rechnet mit 20 Jahren und mehr, bis dieses Verfahren in den Kliniken eingesetzt werden könnte. „Aber wir haben jetzt die ersten Gehversuche, die ersten Prototypen und ich habe schon die Hoffnung, dass es noch in meiner Wirkungszeit in der Klinik eingesetzt wird, wenigstens als Prototyp.“

* Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir in diesem Artikel generische Maskulinum. Die Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.

Manuela Mild | SimTech Science Communication

  • Uta Dahmen, Experimentelle Chirurgie, Universitätsklinikum Jena
  • Matthias König, Systembiologe, Humboldt-Universität Berlin
  • Hans-Michael Tautenhahn, Stellvertretender Bereichsleiter Hepatobiliäre Chirurgie und viszerale Transplantation, Universitätsklinikum Leipzig

Zum Weiterlesen

Lambers, Lena; Waschinsky, Navina; Schleicher, Jana; König, Matthias; Tautenhahn, Hans-Michael; Albadry, Mohamed et al. (2024): Quantifying fat zonation in liver lobules: an integrated multiscale in silico model combining disturbed microperfusion and fat metabolism via a continuum biomechanical bi-scale, tri-phasic approach. In: Biomechanics and Modeling in Mechanobiology 23 (2), S. 631–653. DOI: 10.1007/s10237-023-01797-0.

Tautenhahn, Hans‐Michael; Ricken, Tim; Dahmen, Uta; Mandl, Luis; Bütow, Laura; Gerhäusser, Steffen et al. (2024): SimLivA-Modeling ischemia‐reperfusion injury in the liver: A first step towards a clinical decision support tool. In: GAMM-Mitteilungen 47 (2), Artikel e202370003. DOI: 10.1002/gamm.202370003.

Christ, Bruno; Collatz, Maximilian; Dahmen, Uta; Herrmann, Karl-Heinz; Höpfl, Sebastian; König, Matthias et al. (2021): Hepatectomy-Induced Alterations in Hepatic Perfusion and Function - Toward Multi-Scale Computational Modeling for a Better Prediction of Post-hepatectomy Liver Function. In: Front. Physiol. 12, p. 733868. DOI: 10.3389/fphys.2021.733868.

Ricken, Tim; Lambers, Lena (2019): On computational approaches of liver lobule function and perfusion simulation. In: GAMM-Mitteilungen 42 (4), Artikel e201900016, e201900016. DOI: 10.1002/gamm.201900016.

Ricken, Tim; Dahmen, Uta; Dirsch, Olaf (2010): A biphasic model for sinusoidal liver perfusion remodeling after outflow obstruction. In: Biomech Model Mechanobiol 9 (4), S. 435-450. DOI: 10.1007/s10237-009-0186-x.

Über die Wissenschaftlerin und den Wissenschaftler

Lena Lambers leitete die Arbeitsgruppe Computergestützte Biomechanik am Institut für Statik und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen an der Universität Stuttgart. Dass sie dort die Simulation einer Leber erforschte, erklärte sie ihren Freunden und ihrer Familie immer damit, dass es jeweils die gleichen mechanischen Grundkonzepte seien, egal ob sie Beton simuliere, durch den Wasser fließt, einen Flugzeugflügel, der auch porös sei oder eine Leber, durch die das Blut fließe. Die Verbindung von Ingenieurwissenschaften mit Medizin und Biologie ergibt für sie den Sinn hinter ihrer Arbeit. Lena Lambers hat an der TU Dortmund Bauingenieurwesen studiert und anschließend bei SimTech im Projekt PN 2-2A promoviert. Mittlerweile arbeitet sie als Wissenschaftsmanagerin für Forschungsinfrastrukturen beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).

Tim Ricken ist Professor für Statik und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen und Leiter des gleichnamigen Instituts an der Universität Stuttgart. Die Leber fasziniert ihn seit mehr als 20 Jahren und es motiviert ihn, dass er mit seiner Forschung Menschen helfen oder sogar Leben retten kann. An der Universität Essen hat er Bauingenieurwesen studiert und im Fachgebiet Mechanik promoviert. Bei Kaffee und Keksen am Universitätsklinikum Essen lernte er damals die Ärztin Uta Dahmen kennen, die zu der Zeit in der Transplantationschirurgie arbeitete und ihm von der Leber erzählte, die ja ein poröses Medium sei. Und da er über poröse Medien promoviert hatte, begann so die mittlerweile über 20-jährige erfolgreiche Zusammenarbeit, durch die diese Projekte erst zustande kamen. In SimTech ist Tim Ricken in mehreren Projekten involviert.

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