Wem gehört die digitale Zukunft – und wer gestaltet sie mit? Diese Frage stand im Zentrum einer öffentlichen Podiumsdiskussion, zu der das Stuttgarter Zentrum für Simulationswissenschaft (SimTech) am 25. Juni in die Stadtbibliothek Stuttgart eingeladen hatte. Gemeinsam mit dem Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) und der Ethikum-Reihe der Hochschule für Technik veranstaltet und eingebettet in die Reihe Pride in STEM, rückte der Abend ein Thema ins Rampenlicht, das zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz gewinnt: die Rolle von Vielfalt, Ethik und Teilhabe in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI).
Rund 50 Gäste verfolgten die lebendige Diskussion mit vier Expert*innen aus Wissenschaft, Design und Zivilgesellschaft. Sie sprachen über algorithmische Voreingenommenheit, strukturelle Ausschlüsse – aber auch über Gestaltungsräume und Verantwortung in der Forschung. Denn KI ist längst kein abstraktes Zukunftsthema mehr. Sie beeinflusst schon heute Entscheidungen in Medizin, Bildung, Arbeitswelt und öffentlicher Verwaltung. Doch: Wer gestaltet diese Systeme? Und welche Stimmen fehlen in ihrer Entwicklung?
„Diese Systeme spiegeln, was wir ihnen geben“
Den Einstieg in den Abend gestaltete Prof. Steffen Staab, Sprecher des Exzellenzclusters SimTech, Direktor des KI Instituts der Universität Stuttgart, aber auch Co-Sprecher des Interchange Forum for Reflecting on Intelligent Systems (IRIS), mit einer Einführung in die Funktionsweise von Sprachmodellen wie ChatGPT. Seine zentrale Botschaft: „Sprachmodelle erscheinen intelligent – aber sie spiegeln nur die Wahrscheinlichkeiten dessen, was sie gelernt haben. Und das ist oft voller Verzerrungen.“ Ein Beispiel: In Wikipedia-Artikeln über Frauen kommt das Wort „Ehemann“ deutlich häufiger vor als umgekehrt – ein klarer Hinweis auf strukturellen Bias. „Solche Muster werden nicht hinterfragt, sondern verstärkt, wenn wir nicht bewusst gegensteuern.“
Vielfalt gestalten statt Stereotype reproduzieren
Doch wie kann es gelingen, gesellschaftliche Vielfalt in die Entwicklung von KI zu integrieren, jenseits bloßer Lippenbekenntnisse? Enrico Kunze, Design-Strategist für inklusives Design, plädierte für ein radikales Umdenken: „Inklusives Design beginnt nicht bei Farbe und Form, sondern bei der Frage, wer überhaupt mitgedacht wird.“ Dabei gehe es nicht nur um Barrierefreiheit im klassischen Sinn, sondern um Sichtbarkeit und Zugänglichkeit für Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, kognitiven und sozialen Voraussetzungen – von queeren Perspektiven bis hin zu neurodivergenten Realitäten. „KI kann inklusiv sein – aber nur, wenn sie auf vielfältige Lebenswelten reagiert.“
Auch Natalie Sontopski, Wissenschaftlerin und Mitgründerin der Initiative Code Girls, betonte die gesellschaftliche Verantwortung im Umgang mit KI. Für sie beginnt digitale Gerechtigkeit bei der Bildung: „KI-Kompetenz ist eine Grundvoraussetzung für Teilhabe. Menschen müssen wissen, wie KI funktioniert – und vor allem, was sie nicht kann.“ In ihrer Arbeit geht es darum, technisches Wissen mit kritischem Denken zu verbinden: „Wir müssen aufhören, KI als neutrale Instanz zu betrachten. Sie gibt keine Wahrheiten aus – sie reproduziert, was wir ihr geben.“
Wie konkret sich Menschen beteiligen wollen, zeigte das Beispiel des Bürger*innenrats KI & Freiheit, den Anika Kaiser wissenschaftlich begleitet hat. In dem vom RHET AI Center organisierten Beteiligungsprojekt diskutieren zufällig ausgeloste Bürger*innen über Fragen der KI-Forschung und Regulierung. „Freiheit ist ein Begriff, der immer neu ausgehandelt wird“, so Kaiser. „In einer digitalen Gesellschaft heißt das: Menschen wollen nicht nur informiert werden, sie wollen mitentscheiden.“ Besonders deutlich wurde das beim Thema Datenspende – viele Teilnehmende äußerten die Bereitschaft, ihre Gesundheitsdaten für gemeinwohlorientierte Forschung zu teilen, forderten aber gleichzeitig Schutz vor Missbrauch und politische Transparenz.
Zwischen Regulierung und Verantwortung
Die Diskussion blieb nicht bei gesellschaftlichen Forderungen stehen, sondern rückte auch politische und ökonomische Machtfragen in den Fokus. Wer setzt die Standards, nach denen KI agiert? Was passiert, wenn Unternehmen ethische Verantwortung nur dann übernehmen, wenn es sich rechnet?
„Dass viele KI-Anbieter von einer angeblichen ‚Blackbox‘ sprechen, ist kein Zufall“, sagte Sontopski. „Dieses Bild dient oft dazu, Verantwortung zu verschleiern.“ Enrico Kunze ergänzte: „Wenn politische Systeme bestimmte Gruppen aus Datensätzen streichen, verschwinden sie auch aus der digitalen Welt. Das ist keine technische Entscheidung – das ist eine ethische.“
Und auch Staab warnte davor, KI-Systemen mehr Autorität zuzuschreiben, als ihnen zusteht: „Diese Systeme haben keine Introspektionsfähigkeit. Sie wirken intelligent – aber sie verstehen nichts.“ Er plädierte dafür, den Begriff der erklärbaren KI nicht zu überschätzen: „Erklärbarkeit ist wichtig, aber sie ersetzt nicht die kritische Auseinandersetzung mit dem, was wir als Gesellschaft wollen.“
Durch den Abend führten Hiser Sedik und Patrick Barth aus dem SimTech-Team. Mit klugen Fragen und einem feinen Gespür für Spannungsverhältnisse sorgten sie dafür, dass unterschiedliche Perspektiven Raum bekamen und setzten spannende Impulse.
„Was macht das mit uns?“ – Fragen aus dem Publikum
Diese Impulse wurden in die anschließende Publikumsdiskussion weitergetragen. Die lebhafte und intensive Diskussion machte deutlich: Die technischen Grundlagen sind nur ein Teil der Debatte – mindestens ebenso wichtig ist die Frage, wie KI unsere Wahrnehmung von Autorität, Empathie und Menschsein verändert. So berichtete etwa jemand, dass ChatGPT im Audiomodus den Tonfall imitiert habe. „Ich weiß, dass es eine Maschine ist – aber was, wenn andere das nicht mehr erkennen?“ Auch der Begriff der epistemischen Autorität wurde kritisch diskutiert: Wenn KI als allwissend erscheint, verliert das gesprochene Wort von echten Expert*innen an Gewicht.
Die Panelists betonten: KI-Kompetenz bedeutet mehr als Technikverstehen – es heißt, sich der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wirkungen bewusst zu sein. Genau deshalb seien Bildungsangebote, Partizipationsformate und eine öffentliche Debatte so entscheidend.
Forschung mit Haltung: Pride in STEM at SimTech
Die Diskussion war Teil der Veranstaltungsreihe Pride in STEM, mit der SimTech ein klares Zeichen setzt: für verantwortungsvolle Forschung, für Sichtbarkeit und für Teilhabe. SimTech versteht sich nicht nur als Zentrum exzellenter Simulationsforschung, sondern auch als Plattform für gesellschaftlichen Dialog. Mit Pride in STEM will das Zentrum Diversität, Ethik und Inklusion dauerhaft in Forschung, Lehre und Transfer verankern – über einzelne Veranstaltungen hinaus. „Die Diskussion um KI ist kein Expert*innenthema – sie betrifft uns alle“, so das Fazit des Abends. Formate wie diese zeigen, dass sich Technologiepolitik nicht hinter Fachbegriffen verstecken muss. Sie lebt vom Dialog – und davon, dass viele Stimmen gehört werden.